77 Jahre nach Kriegsende

von Horst Weckelmann

Als der Krieg 1945 zu Ende war, gab es in Deutschland chaotische Verhältnisse. Trotz der Zerstörung und großer Not atmeten die Menschen auf, denn sie waren frei. Ich war damals

11 Jahre alt und brauchte nicht mehr mit "Heil Hitler" grüßen. Wir konnten nachts wieder schlafen und mussten nicht mehr in den Luftschutzkeller. Die Schulen hatten geschlossen, denn viele Lehrer waren noch in der Gefangenschaft. Unser Haus war zerstört und die Fenster waren mit Brettern zugenagelt. Wir hatten Hunger und die Versorgung mit Lebensmitteln war sehr schlecht. Wenn es Ware gab, dann auf Lebensmittelkarten und man musste vor den Geschäften stundenlang in der Schlange stehen. Oft kam es vor, dass man einige Stunden in der Schlange gestanden hatte und wenn man an der Reihe war, gab es nichts mehr. Eltern und Kinder lösten sich in den Warteschlangen häufig ab. Bei der Versorgung leisteten die Konsumgenossenschaften hervorragende Arbeit. In den Trümmern klopfen Frauen und alte Männer Steine, die zum Wiederaufbau gebraucht wurden.

Als die Schule 1946 wieder ihren Betrieb aufnahm wurden wir Schüler vom Lehrer gebeten, Kohle zum Heizen der Klassenzimmer mitzubringen. Es gab kein Papier und es kam vor, dass wir unsere Hausaufgaben auf einer Lebensmittel-Tüte machten. Nur die waren auch nicht immer vorhanden, den die gebrauchten Tüten wurden wieder verwendet. Vor der Währungsreform gab es in den Schulen die Schweden-Speisung. Wir mussten ein entsprechendes Essgeschirr und einen Löffel mitbringen. In dieser Zeit gingen wir gern zur Schule, weil es etwas zu Essen gab. Häufig wurde der Unterricht nach ein-oder zwei Stunden beendet, weil das Klassenzimmer zu kalt war und wir gefroren haben. In den wärmeren Monaten fiel der Unterricht allerdings nur aus, wenn kein Lehrer anwesend war. Mein Klassenlehrer (Herr Schmidt) war bereits 68 Jahre alt und konnte bald nicht länger als 2 Stunden unterrichten.

Es war eine schlechte Zeit, der Schwarzhandel blühte und es ging darum, wie man sich durchschlagen konnte. Der Alliierte-Kontrollrat verwaltete die Besatzungszonen, damit sich wieder ein geordnetes Leben entwickeln konnte. Es wurde fleißig gearbeitet und der Wiederaufbau vollzog sich in einer ungeahnten Schnelle. Die Menschen hatten wieder Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Keine Nazi-Herrschaft mehr und trotz der Besatzung fühlten sich die Menschen freier. Endlich konnte man wieder sagen was man dachte, denn man brauchte keine Angst haben, im Gefängnis zu landen.

Mit dem demokratischen Aufbau Westdeutschlands machten wir unsere ersten Erfahrungen. Nach der Nazidiktatur mussten wir mit anschauen, wie unser Land in Ost und West aufgeteilt wurde und sich in Ostdeutschland wieder eine neue Diktatur etablieren konnte. Die Kriegsfolgen waren noch nicht beseitigt und uns jungen Demokraten fehlte jedes Verständnis, wie sich Bürger unseres Landes nach den schrecklichen Erfahrungen der Nazidiktatur wieder für Parteien einsetzten, die aus der Vergangenheit nichts gelernt hatten. Nach den Massenmorden und den Greueltaten des Hitler-Regimes war uns klar, dass um die Erhaltung der Demokratie gekämpft werden muss. Der wirtschaftliche Aufschwung unterstützte unser Eintreten für eine demokratische Gesellschaftsordnung. Für Frieden und Freiheit einzutreten war nicht immer leicht. Überzeugende Argumente gegen Diktatur und Gewalt waren immer hilfreich im Kampf gegen die Feinde der Demokratie. Mit der Teilung Deutschlands hatten sich viele Bundesbürger bereits abgefunden. Die demokratischen Parteien hatten in ihren Programmen das Ziel nach einem wiedervereinten Deutschland nie aufgegeben. Nach 40 Jahren DDR-Diktatur endlich wieder ein vereintes Deutschland zu erreichen und nach Jahrzehnten ohne Krieg ist ein Erfolg aller Demokraten. Wir alle können uns glücklich schätzen über so eine lange Zeit in Frieden und Freiheit leben zu können. Vieles ist verbesserungswürdig, aber es lohnt sich für die Menschenrechte einzutreten.

Nur 77 Jahre nach dem schrecklichen Krieg in der Hoffnung zu leben, es wird schon so weiter gehen, reicht nicht. Unser demokratisches Staatswesen wird ihre Feinde bekämpfen müssen, denn die Demokratie will täglich aufs neue für ihre Bürger erhalten werden. 77 Jahre nach Kriegsende wird es auf die Mehrheit im Volk ankommen, Kriege zu ächten und für eine friedliche Konfliktlösung einzutreten. Zum Leben ist der Mensch geboren und nicht um im Krieg zu verrecken. Erst wenn der Geist des Krieges besiegt sein wird, dann wird es auch keinen Krieg mehr geben.